EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 3:  Die erste Lesung

Beim Spaziergang mit Hagedorn erhält Falke eine Einladung in den
„Club der Poeten“. Dort greift Schmidt die Autorinnen heftig an.

Sie standen auf der Höhe des Dünenkamms, auf dem Weg neben der Strandhalle, hatten sich beim Spazierengehen zufällig getroffen.
     „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Frank Falke sprach langsam, gedankenverloren.
     „Man kommt sich klein vor.“
     „Ja ... wirklich.“ Sie drehten sich um, gingen langsam den Weg durch die Düne zurück, vorüber an den Ständen der Strandkorbvermieter.
     „Schade, dass Annette das nicht sehen kann.“ Frank Falke wandte sich wieder Ingmar Hagedorn zu. „Es hätte ihr gefallen. Annette ist meine Frau“, fügte er erläuternd hinzu.
     „Oh ja.“
     „Sind Sie auch verheiratet?“
     „Verwitwet.“ Die Traurigkeit in seiner Stimme war unüberhörbar.
     „Oh ja.“ Er zögerte. „Vor kurzem?“
     „Nein. Acht Jahre. Ich weiß, nach soviel Jahren sollte man ... Doch ... damals war ich anders. Lebenslustig und fröhlich – irgendwie. Seitdem ist alles anders.“
     „Oh ja.“
     „Es war ein Unfall. Wir waren mit dem Auto unterwegs durch ganz Europa. Unser erster großer Urlaub zusammen. Fünf Wochen sollten es werden. Aber ... Babette war Allergikerin, erster Grad, wir hatten ein Antidot immer griffbereit. Dann saßen wir in diesem Café, lachten. Auf einmal ... Das Antidot lag im Auto ... Die Spritze, ich ... ich kam zu spät.“ Er sah plötzlich auf, sah wieder zu Boden. „Aber warum erzähle ich Ihnen das?“
     „Ich weiß nicht.“ Frank Falke schaute ihn an. „Vielleicht tut es gut, davon zu erzählen. Haben Sie es schon oft erzählt?“
     „Nein. Nicht oft.“ Sie gingen schweigend weiter. Er macht sich Vorwürfe, dachte Falke. Ingmar Hagedorn blieb plötzlich stehen. „Warum bringt man eigentlich jemanden um? Wissen Sie das?“
     Frank Falke musterte ihn verwundert. Die Frage löste unangenehme Assoziationen in ihm aus. Mehr als einmal war er in den letzten Jahren Mord und Totschlag begegnet. „Ich verstehe nicht ganz.“
     „Nun, ach ... Heute Vormittag, der Unfall auf dem Schiff – mit dem Auto. Haben Sie es gesehen?“
     „Ja.“
     „Jemand meinte, es wäre Absicht gewesen. Um dem Mann die Beine kaputtzufahren oder ... oder um ihn zu töten. Aber ...“
     „Das glaube ich nicht.“ Er sprach wider bessere Erfahrung. Leise Alarmglocken schrill- ten in seinem Kopf. Bitte nicht, dachte er, nicht schon wieder. Kein Detektiv wider Willen, nicht hier auf der Insel!
     „Ich glaube es auch nicht. Ich weiß nicht, ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum jemand so etwas tun sollte. Das ist doch nicht richtig. Aber Herr Knapproth meinte es.“ Er zögerte. „Haben Sie Lust mitzukommen? Heute Abend.“
     „Wohin mitkommen?“
     „Zur ersten Veranstaltung unseres Vereins. Dem Club der Poeten. Heute Abend ist Dichterlesung.“
     „Sind Sie Schriftsteller?“
     „Na ja, ich weiß nicht.“ Ingmar Hagedorn lächelte scheu. „Ich habe ein paar Gedichte geschrieben. Eigentlich bin ich Buchhalter.“
     „Ich komme mit.“ Frank Falke begann sich wieder zu entspannen. Die kurze Nähe des Todes schien vorüber. Warum auch nicht, dachte er, eine Dichterlesung. Er mochte diesen Mann in seiner zaghaften Art, mit seinem Kummer. Außerdem hatte er am Abend nichts vor.
     Zwanzig Minuten später saßen sie im Hotel Hüttmann. Der Raum war knapp zur Hälfte gefüllt. Neben ihm saß Ingmar Hagedorn, umgezogen und korrekt gekleidet, obwohl er, wie er mehrfach betont hatte, nicht zu den Vortragenden gehörte.
     Dennoch spürte Frank Falke seine innere Aufregung. Er sah auf die Uhr, blickte sich um. Nahe der Tür sah er einen Mitbewohner der Pension Deichkrone im aufgeregten Gespräch mit einem auffallend langen, hageren Mann.
     „... und er hat doch ein Einzelzimmer!“ drang die unwirsche Stimme des Pensionsgastes zu ihm herüber. Die knallfarbene Pracht seiner Kleidung war bemerkenswert. Dabei mochte der Mann gut über Fünfzig sein.
    „Ich bitte Sie, Knapproth, nicht jetzt!“ Der Hagere machte eine hilflose Geste.
     „Wir müssen anfangen. Schmidt hat sich sein Zimmer selbst besorgt, schon vor Wochen. Ich wusste nichts davon. Später ... Wir können ja später noch einmal darüber reden.“
     Der Hagere, trat vor das Publikum. „Meine sehr verehrten Damen und Herren! Willkommen zur Woche der Poesie, veranstaltet vom Club der Poeten, die mit der heutigen Auftaktveranstaltung ihren würdigen Anfang findet. Was wäre eine Welt ohne Gedichte? Eine Sprache ohne Flügel? Obwohl in unserer heutigen modernen Welt des Computers und des Internets gerade die Dichtkunst oft genug nicht die Aufmerksamkeit findet, die sie verdient. Bedauerlicherweise ...“ Frank Falke sah auf das Blatt, das am Eingang verteilt worden war. Dies musste Dr. Karl-Heinz Schneiber sein, der Vorsitzende des Vereins.
     „... Nun darf ich Ihnen unseren ersten Dichter vorstellen, ein Mann, der die Einsamkeit der Großstadt, die Verlassenheit der Häuserschluchten, das lärmende Nichts in bedrängende Worte umsetzt, Worte die bewegen, anrühren, ein Mann, der ...“
     Es wurde eine langweilige Veranstaltung. Ohne ein wirkliches Urteil abgeben zu können, kamen ihm die Gedichte dilettantisch vor. Falke sah sich um, stellte fest, dass all seine Pensionsnachbarn auf der Veranstaltung anwesend waren. Ich bin in eine Dichterhöhle geraten, dachte er lachend. Inzwischen hatte die letzte Dichterin das Podium betreten, auch sie ein Gast der Pension. Zugleich war sie eine der beiden Frauen, deren Gespräch Frank Falke unfreiwillig auf der Fähre mit angehört hatte. Er war überrascht gewesen, sie in der Pension wiederzufinden. Sybille Marxen hieß sie, wie im Programmablauf zu lesen war. Frank Falke versuchte, sich auf das von ihr vorgetragene Gedicht zu konzentrieren.

                                             Einfalt erfundener Worte,
                                             Die man hinter Türen spricht,
                                             Aus Fenstern und gegen die Mauern,
                                             Gekalkt mit geduldigem Licht.

Sybille Marxen verbeugte sich. Die Veranstaltung war zu Ende, das Publikum applaudierte.
    „Hat es Ihnen gefallen?“
    „Ja.“ Frank Falke hatte kein Bedürfnis, Ingmar Hagedorn zu verletzen.
    „Wir sitzen noch ein wenig zusammen, die Schriftsteller, meine ich. Vielleicht hätten Sie Lust, auch noch ...“
     „Ah, Hagedorn, Sie kommen doch noch mit uns?“ Dr. Schneiber kam auf sie zu, deutete auf die Bar, die sich an den Vortragsraum anschloss, bemerkte Frank Falke. Ingmar Hagedorn stellte ihn vor.
     „Ein Bewunderer der Lyrik. Wie schön, dass es so jemanden noch gibt. Was sind Sie von Beruf, Herr Falke?“ Die Frage traf ihn unvorbereitet. „Pastor“, antwortete er wahrheitsgemäß, ohne nachzudenken, ärgerte sich aber sofort darüber.
     „Möchten Sie noch ein Glas Wein?“ Detlef Knapproth hielt die Weinflasche in der Hand, lächelte Kattrin Engels zu. Sie lächelt zurück, registrierte er beglückt. Sie saßen zusammen in der Entenschnack-Bar des Hotel Hüttmann. Mit am Tisch saßen Hagedorn, Kattrin Engels, die Marxen, Schmidt und Schneiber. Schneiber hatte auch noch den anderen Gast aus der Pension Deichkrone mitgebracht, einen Pfarrer Falke.
     „Oh danke, ja.“ Kattrin Engels hielt ihm ihr Weinglas entgegen.
     „Ich möchte auch noch ein Glas. Ich denke“, Dr. Schneiber wandte sich wieder der Gruppe zu, „wir können mit dem Abend zufrieden sein. Obwohl, es hätten doch ein paar mehr sein können. Insbesondere junge Leute.“
     „Mir hat Ihr letztes Gedicht gefallen, Frau Marxen.“ Lorenz Schmidt meldete sich zu Wort. „Trotz Ihres Lebenswandels. Präzise ...“
     „Was soll das heißen?“ fuhr Kattrin Engels dazwischen.
     „Das wissen Sie ganz genau, Frau Engels. Und heute Morgen haben Sie mich beinahe überfahren.“
     „Ich habe mich entschuldigt. Es war ein Versehen. Außerdem glaube ich kaum, dass du ein Urteil über unseren Lebenswandel abgeben kannst. Albernes Wort. Außerdem“, sie grinste,
     „er macht sogar Spaß, Lorenz.“
     „Sehr richtig!“ pflichtete Detlef Knapproth ihr bei, bemerkte erst hinterher, was er gesagt hatte.
     Kattrin Engels warf ihm einen amüsierten Blick zu. Trotzdem, in dem Blick hatte Anerkennung gelegen. Und Schmidt sollte lieber vorsichtiger sein mit seinen Worten. Die Engels war zu allerlei fähig, wenn man sie reizte. Eigentlich müsste Schmidt das auch wissen. So lange her war die Geschichte nun wirklich nicht. Und dabei konnte er Schmidt sogar ein wenig verstehen. Es war einfach nicht fair, so mir nichts, dir nichts auf die andere Seite zu wechseln. Was die Engels brauchte, war ein richtiger Mann. „Sehr richtig!“ fügte er noch einmal hinzu.
     „Unsinn! Ich weiß genau, wovon ich rede: von Ihrem Lebenswandel.“ Mit moralischem Impetus erhob Lorenz Schmidt seinen Zeigefinger.
     „Verzeihen Sie bitte, Frau Marxen, aber Ihr Lebenswandel ist einfach unnatürlich. Wider die Natur. Und wenn Sie schon so triebhaft sind, dann bitte nicht in der Öffentlichkeit. Ich bin nicht allein mit dieser Meinung.“
     Dr. Schneiber versuchte zu schlichten. „Eine konservative Beamtenseele, unser Schmidt. Immer korrekt, immer den alten rechten Pfad, nicht wahr, Herr Kollege?“

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