EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 9:  Der Totenschein

Frau Boysen findet ein verdächtiges angebranntes Stück Papier.
Detlef Knapproth weiß offenbar einiges über Kattrin Engels

„Entschuldigung ...“ Die Erbschaftsgeschichte war ihm eingefallen. „Herr Schmidt hat mir etwas von einer alten Erbschaftsgeschichte erzählt, deswegen, ich dachte plötzlich ...“
    „Sie wollen doch nicht meinen Okke da mit reinziehen.“ Frau Boysen bebte plötzlich vor Empörung. „Also, alles, was recht ist, aber ... wenn Sie mir so kommen, Herr Pastor ...“
    „Nein, tut mir Leid, wirklich nicht.“ Er fragte sich, ob er gerade die Wahrheit sagte. War es nicht doch möglich, dass Okke Boysen der Adressat jener seltsamen Erbschaftsge- schichte war? „Wirklich nicht. Und wie haben Sie gesagt: Man soll keine Gerüchte in die Welt setzen.“
    „Das will ich wohl meinen.“
    Er entschuldigte sich noch einmal. Sie sagten einander gute Nacht. Fünf Minuten später war er oben in seinem Zimmer. Er legte sich aufs Bett, schloss die Augen, grübelte.
    Diese Erbschaftsgeschichte, die Lorenz Schmidt ihm kurz vor seinem Tod erzählt hatte. Irgendwie war er sicher, dass Schmidt noch mit einem Erben gesprochen oder es zumindest versucht hatte. Aber wer? War es Okke Boysen gewesen? Was hatte Schmidt gemacht, nachdem er ihn in Gesellschaft von Kattrin Engels auf dem Friedhof der Namenlosen zurückgelassen hatte?
    Plötzlich kam ihm eine Erinnerung. Es war etwas, was er über Schmidt und das Einzelzimmer gehört hatte. Und zwar ... Die Erinnerung verschwamm. Was war es gewesen? Wieder so eine Erinnerungslücke! Plötzlich noch eine Idee, eine Frage: Wer war es, der dafür gesorgt hatte, dass das Dichtertreffen hier auf der Insel stattfand? Vielleicht Schmidt selbst? Um seine Theorie zu überprüfen und dann einen seiner Dichterkollegen mit der Wahrheit zu konfrontieren? Vielleicht.
    Er musste gähnen, Zeit, dass er zur Ruhe fand. Morgen begann jedenfalls der Pastorenkonvent im Haus Altenwerder, vorhin auf dem Weg zum Strand war er daran vorbeigekommen. Ein Stück Normalität in all dem, was um ihn herum geschah. Morgen um neun begann der Konvent. Die meisten Kollegen waren wahrscheinlich bereits angereist, übernachteten heute schon im Tagungshaus. Er hätte heute Abend auch dorthin gehen können, aber ...
    Es klopfte. „Herein! Was gibt es noch, Frau Boysen?“
    „Hier.“ Frau Boysen deutete auf einen kleinen Papierschnipsel mit verbranntem Rand. „Eigentlich sollte ich Ihnen das gar nicht zeigen, nach dem von eben. Doch ... hier ... das habe ich gerade erst gefunden. Bei der Haustür. Aber innen. Und was meinen Sie, was das ist? Der Rest von dem Totenschein. In meinem Haus.“
    „Ein Totenschein?“ Niemand hatte ihm von einem Totenschein erzählt. „Was für ein Totenschein?

     *

Frank Falke blinzelte der Sonne entgegen, weitete sich. Er fühlte sich unkonzentriert. Heute Morgen hatte er lange mit Annette gesprochen. Zu seiner Verwunderung hatte sie kaum etwas gesagt, hatte ihm lange und intensiv zugehört und ihm dann viel Glück für seine weiteren Vorhaben gewünscht. Er war ihr dafür dankbar gewesen.
    Er blickte zurück aufs Tagungshaus. Er würde nicht mit den Kollegen zu Mittag essen und das, obwohl er sich noch gestern so auf dieses Stück Normalität seines Lebens gefreut hatte. Aber im Augenblick war ihm auch diese Welt fremd.Er ging
    weiter. Radfahrer kamen ihm entgegen, ordnungsgemäß ihr Fahrrad vor sich her schiebend, Familien mit kleinen Kindern, die das jüngste Mitglied der Familie in roten oder blauen Bollerwagen hinter sich her zogen, wie es sie überall auf der Insel zu mieten gab. Zwei Rentner mit Rucksack, Vogelfreunde, wie ihm schien, mit Fernrohr und Wanderstiefeln bewaffnet, gingen vorbei. Ein korpulenter junger Mann auf einer Parkbank fiel ihm auf. In jeder Hand hielt der Mann eine Eistüte. Und während er selbst an dem einen Eis lutschte, streckte er die andere Eistüte seinem Hund entgegen, einem kleinen Terrier, der brav Eis leckend zu seinen Füßen hockte. Ein absurdes Bild! Frank Falke schüttelte den Kopf. Zugleich erinnerte ihn die Szene an etwas. Ach ja, am Sonntag Vormittag nach der Kirche hatte er Detlef Knapproth gesehen, ebenfalls in jeder Hand mit einer Eistüte. Nun, sicher war sein zweites Eis nicht für einen Hund bestimmt gewesen.
    Tag, Herr Pastor!“ Detlef Knapproth kam jovial auf ihn zu, in seinem Gefolge Ingmar Hagedorn hinter sich her ziehend.
    „Sie sind nicht bei der Arbeit? Heute beginnt doch Ihr Treffen, oder?“
    „Mittagspause.“ Frank Falke lächelte. Eine Idee kam ihm. Es galt, den Stier bei den Hörnern zu packen.
    „Kannten Sie eigentlich Herrn Schmidt persönlich?“
    Wieso?“ Detlef Knapp„roth sah ihn indigniert an.
    „Nein.“ Ingmar Hagedorn schüttelte den Kopf. „Ich kannte ihn nicht. Herr Knapproth hat ihn mir gezeigt.“
    „Ja genau.“ Der Argwohn verflog. „Stimmt, als wir hier ankamen, im Bus, nicht wahr, Hagedorn? Wir sprachen gerade über die Engels und ihren komischen Unfall auf dem Schiff. Da allerdings“, Detlef Knapproth hielt inne, machte eine bedeutungsvolle Geste, „da könnte ich Ihnen nun wirklich was erzählen. Als Pastor interessiert man sich ja wohl für alles, nicht wahr? Selbst für Morde. Das Gefallene im Menschen und so, na ja. Was ist, gehen wir zusammen essen? Doch, ich denke, ich sollte Ihnen etwas erzählen.“
    Sie setzten sich in Bewegung.
    Detlef Knapproth war schweigsam geworden während des Weges, schien sich seine Offenbarungen für das Essen aufzubewahren.
    Ingmar Hagedorn verabschiedete sich, begab sich zur Pension, wo er sein bescheidenes Mahl zuzubereiten gedachte.
    Frank Falke und Detlef Knapproth steuerten das Hotel Hüttmann an. Zehn Minuten später saßen sie draußen auf der Terrasse beim Essen.
     Was haben Sie eigentlich am Sonntagnachmittag gemacht?“ Frank Falke versuchte es mit einem Frontalangriff.
    „Ich ... Wieso?“ Erschrocken ließ Detlef Knapproth die Gabel sinken. „Was geht Sie das an? Außerdem habe ich ein Alibi.“
    „Was ich gemacht habe, wissen alle.“ Frank Falke lächelte betont harmlos.
    „Da haben Sie Recht.“ Detlef Knapproth lächelte plötzlich ebenfalls.
    „Ist man als Pastor immer so neugierig?“
    „Manchmal schon. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu verstehen. Und da fragt man sich ...“
    „Lassen Sie’s!“ Detlef Knapproth unterbrach ihn lautstark. „Menschen sind nicht zu verstehen. Er begann“ wieder zu essen.
    Plötzlich erstarrte er mit offenem Mund, schien irgendetwas gesehen zu haben. Frank Falke drehte sich um.
    „Ah, da ist Jessica. Und Herr Boysen.“
    „Wie bitte?“
    „Unser Vermieter mit seiner Enkelin. Sie haben sie doch auch schon gesehen.“
    „Wie? Ja, natürlich.“
    Jessica winkte ihnen jetzt zu. Frank Falke winkte zurück, sah ihnen nach.
    „Wo war ich stehen geblieben?“ Detlef Knapproth nahm den Faden des Gespräches wieder auf. „Schmidt ... Herrje, der war nicht viel wert! Außerdem ist es mir egal, wer wen umbringt, solange ich nicht das Opfer bin. Wissen Sie, damals bei den Demonstrationen gegen die Atomkraft habe ich mir gedacht, entscheidend ist, auf welcher Seite vom Wasserwerfer man sitzt. Ob man zuschlägt oder geschlagen wird. Heute bringe ich meine Schäfchen ins Trockene. Ich will auch etwas vom großen Kuchen abhaben. Spaß, der Funfaktor muss stimmen, ja, das ist es.“
    „Und wie war der Kuchen am Sonntag Nachmittag?“
    Frank Falke versuchte es mit Humor. Es musste doch möglich sein, seinem Gegenüber wenigstens eine kleine Auskunft über sein Tun zur Mordzeit abzuringen. Außerdem: Was war da eigentlich eben geschehen? Wollte Detlef Knapproth Herrn Boysen aus dem Weg gehen? Aber warum?
    „Kuchen am Sonntag ... Sie sind hartnäckig, was? Ein Bierchen habe ich getrunken, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Mehrere, um genau zu sein. Und zwischendurch habe ich Hagedorn getroffen. Sind Sie nun zufrieden? Aber ...“
    „Ja?“
    „Was ich erzählen wollte ...“
    „Ja?“
    „Da kämen Sie nie drauf. Die Engels und der Schmidt ... Ich hab immer gesagt, die bringt den noch mal um. Ist ja auch kein Wunder, bei dem, was die mit ihm durchgemacht haben muss. Unfall auf der Fähre – das ist doch zum Lachen. Von wegen. Die ist gefährlich, die Kleine, das ist so. Auch wenn Sie jetzt mit dieser Tante da rummacht. Sonst ... na ja ...
    „Ich verstehe nicht.“
    Detlef Knapproth lachte. „Das glaube ich Ihnen. Sie forschen doch anscheinend nach, nicht wahr? Lässt Ihnen keine Ruhe der Mord, nicht wahr? Hab ich schon gemerkt. Na dann fragen Sie doch mal die Engels, warum Sie niemandem erzählt, dass sie mal mit Schmidt verheiratet war.“

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