EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 12:  Niedergeschlagen

Pastor Falke spielt in den Dünen Detektiv und erhält von hinten
einen Schlag auf den Kopf. Der Kommissar besucht ihn im Krankenhaus.

„Oh!“ Ingmar Hagedorn erbleichte. Schrecken zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Aber ich ... Warum ... Ich bin dafür nicht der Richtige.“
    „Nun warten Sie doch. Gestern Abend, Sie erinnern sich ...“
    „Woran?“
    „Da war doch dieser Zettel, der niemandem gehörte. Es ging um eine Verabredung heute Nachmittag in den Dünen. Ich möchte gerne wissen, wer da sein wird. Denn ich bin ganz sicher, dass der Zettel einem von uns gehörte. Aber wem?“
    „Es war nicht mein Zettel. Wirklich nicht.“
    „Das glaube ich Ihnen.“
    „Aber dann ... Was hat das damit zu tun?“
    „Genau weiß ich es auch nicht. Ich möchte es jedoch herausfinden. Auf dem Zettel stand: 14 Uhr 30, Leuchtturm, Dünen. Aber nun ist es leider so: Es gibt hier zwei Leuchttürme in den Dünen, den richtigen Amrumer Leuchtturm und das Quermarkenfeuer. Das habe ich auf meiner Karte gesehen. Und ich kann natürlich nicht an beiden Orten gleichzeitig sein. Deshalb dachte ich, wenn Sie mir helfen ...“
    „Ich weiß nicht, ob das gut ist.“
    Ingmar Hagedorn schaute zu Boden. Sie schwiegen. „Na gut. Wenn Sie wirklich wollen. Es ist aber nicht richtig.“
    „Danke.“ Frank Falke sah ihn aufmunternd an, zog die Karte hervor, erläuterte den Weg, bat ihn, eine halbe Stunde am Leuchtturm auszuharren, die Augen aufzumachen und auf sich aufzupassen. Anschließend verabredeten sie sich am Buchladen im Friesenhaus, um hinterher irgendwo Kaffee zu trinken. Frank Falke blickte Ingmar Hagedorn nach, wie er mit dem Fahrrad davonfuhr. Ein Hochgefühl bemächtigte sich seiner. Dieser Zettel war ein Fingerzeig gewesen, genau der, auf den er so lange gewartet hatte.
    Er schloss sein Fahrrad auf und fuhr davon.
    Der Weg zum Quermarkenfeuer begann bei der Vogelkoje, so hatte er auf der Karte gesehen. Rechts von ihm lag eine Heidelandschaft. Er staunte erneut über die Vielseitigkeit der Landschaftsformen, die auf der Insel zu finden war: Dünen, Wald, Heide und Marschwiesen.
    Frank Falke hatte die Vogelkoje erreicht, ein unscheinbarer quadratischer Teich, von Wald umgeben, dessen Funktion als Vogelfangplatz er nicht durchschaute. Aber heutzutage wurden hier ja keine Vögel mehr gejagt. Er stellte das Fahrrad ab, sah Rehe in einem Gehege äsen, suchte den Weg zum Quermarkenfeuer, ging den Sandweg in Richtung Düne. Der Wind hatte zugenommen, blies ihm um die Ohren. Bald würde er Bescheid wissen ... er – oder Ingmar Hagedorn. Wahrscheinlicher war es ja, dass die Verabredung sich auf den roten Leuchtturm bezog, das Wahrzeichen Amrums, aber andererseits sagte ihm sein Gefühl ...
    Er ging den Sandweg weiter, der jetzt die Heide verließ und in einen Bohlenweg überging. Rechts sah er überraschenderweise große Steine, Findlinge, im Sand liegen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Zugleich spürte er, wie seine Euphorie verflog. Auf was hatte er sich da eigentlich eingelassen? Auf einen kleinen unbedeutenden Zettel, der ihm aus irgendwelchen Gründen wie die große Offenbarung vorgekommen war. Warum eigentlich? Was, wenn sich alles als ganz harmlos herausstellte, falls er sich getäuscht hatte oder falls niemand kam? Aber das konnte doch nicht sein. Plötzlich ein böser Gedanke: Und wenn er Ingmar Hagedorn jetzt in Gefahr brachte? Wer einmal gemordet hatte ... Er verdrängte diesen Gedanken schnell.
    Der Bohlenweg führte auf eine Treppe zu. Vor sich konnte er in einiger Entfernung das rot-weiße Quermarkenfeuer sehen, einen kleinen Leuchtturm mit spitzem roten Hut, der irgendwie witzig über der Düne thronte. Er stieg langsam die erste Treppe hinauf, sah sich sorgfältig um. Nichts Auffälliges, niemand war zu sehen.
    Das Quermarkenfeuer lag jetzt dicht vor ihm. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten nach halb drei. Wen würde er hier treffen? Würde er jemanden treffen? Er schaute die Treppe hinauf, überlegte, ob es gut sei, hinaufzugehen, versuchte zu erkennen, ob jemand oben sei. Plötzlich meinte er ein Geräusch zu hören. Er wollte sich umdrehen, als sein Kopf vor Schmerz explodierte. Etwas traf ihn am Hinterkopf. Er schrie, merkte, wie seine Beine wegknickten, sackte in sich zusammen. Als sein Körper auf die Bohlen fiel, dort abrutschte und vom Weg herab weiter in den Sand glitt, war er schon ohne Bewusstsein.

     *

Der Arzt kam heraus, schloss die Tür hinter sich. „Sie können jetzt zu ihm, Herr Kommissar.“
    Kommissar Carsten Wegener nickte. „Danke. Können Sie mir etwas über seinen Zustand sagen?“
    „Ein leichtes Hirn-Schädel-Trauma.“ Der Arzt, ein etwa fünfzigjähriger, kräftig gebauter Mann, dem man die vielen Jahre auf der Insel am Gesicht ansah, blickte ihn nachdenklich an, so, als würde er überlegen, wie viel Fachwissen man einem Laien zumuten konnte.
    „Gehirnerschütterung, um es einfach zu sagen. Und natürlich ein paar Prellungen, Schrammen, die er sich beim Fallen zugezogen hat. Insgesamt hat er Glück gehabt, der Schlag kann nicht allzu hart gewesen sein und beim Hinfallen hätte auch mehr geschehen können. Keine Brüche, keine Überdehnungen. Kopfschmerzen, Schwindel, Neigung zum Erbrechen, mehr nicht. Ein bis zwei Tage Bettruhe, dann ist es vorbei. Wenn der Mann härter zugeschlagen hätte, dann ...“
    „Der Mann?“
    „Oder die Frau ... Man braucht nicht soviel Kraft, um einen Menschen zu erschlagen.“ Der Arzt seufzte. „Leider.“
    „Und die Tatwaffe?“
    „Ein stumpfer Gegenstand, ich würde auf einen Stein tippen. Oder eine Flasche, obwohl es mehr nach einem Stein aussieht.“
    Den wir dort in den Dünen niemals finden werden, dachte Carsten Wegener.
    „Danke, Herr Doktor.“
    Carsten Wegener öffnete die Tür zu Frank Falkes Zimmer, trat ein. Der Pastor lag in seinem Bett, den Kopf mühsam gegen ein Kissen gelehnt. Dicht unter seinem linken Auge war eine große rote Schramme zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich die beim Fallen geholt.
    „Guten Abend, Pastor Falke. Da bin ich.“
    „Oh, Herr Wegener.“
    Frank Falke richtete sich auf. „Herr Kommi...“ Er begann plötzlich zu würgen, kämpfte Mitleid erregend mit dem Gefühl, erbrechen zu müssen.
    „Nicht bewegen, Herr Pastor.“
    „Das sagen Sie so einfach.“ Der Brechreiz ließ langsam nach. Frank Falke rang nach Luft.
    Carsten Wegener setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand, sah sich im Zimmer um, betrachtete Frank Falke. Er war ärgerlich auf den Pastor, auf dessen Einmischung.
    Habe ich Sie nicht gewarnt? Sie haben sich also wirklich an die Arbeit gemacht.“ Carsten Wegener schüttelte ärgerlich den Kopf. „Mord ist nichts für Hobbydetektive.“
    „Ich weiß.“ Frank Falke fuhr sich mit der Hand an die Stirn. „Diese verdammten Kopfschmerzen. Mein ganzer Kopf dröhnt.“
    „Ich werde es kurz machen, Herr Falke. Können Sie mir den Tat-hergang schildern?“
    „Nein. Aber ...“
    Frank Falke fing an zu erzählen, berichtete vom aufgefundenen Zettel, der niemandem gehört hatte, von seinem Plan, den Täter zu überführen, von Ingmar Hagedorns Mithilfe und schließlich von seinen Vermutungen, zu welchem Zweck das Treffen arrangiert worden war.
    „Mit Ihren Ideen liegen Sie falsch. Ganz und gar.“
    So war das nämlich mit den Laien und ihren Ideen. Wie gut, dass es noch die Polizei gab.
    Andererseits ... Kommissar Carsten Wegener kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Zugegeben, Pastor Falke, andererseits, für irgendjemand muss die Verabredung etwas bedeutet haben. Warum sonst hätte man sie niedergeschlagen. Und Sie haben wirklich niemanden erkannt?“
    „Nein.“
    „Schade, obgleich es wohl Ihr Glück ist.“
    „Wieso das?“
    „Weil Sie sonst wohl nicht mehr am Leben wären.“
    Er sah den Pastor an. Seltsam, wie oft man doch die einfachsten Schlussfolgerungen verdrängte. Dabei war Pastor Falke intelligent genug, um selbst darauf zu kommen. „Vieles spricht doch dafür, dass Sie niedergeschlagen wurden, damit Sie eine bestimmte Person nicht identifizieren können. Hätte diese Person auch nur den leisesten Grund zu der Vermutung gehabt, dass dies doch der Fall sein könne oder Sie sich gar umgedreht hätten, hätte sie härter zugeschlagen. Und in dem Fall ...“
     Sie schwiegen. „Wieso liege ich mit meinen Vermutungen falsch?“ beendete Frank Falke nach einiger Zeit die Pause.
    „Das wollte ich Ihnen erzählen. Ihre Vermutung bezüglich der Person, die sie am Tatort angetroffen haben ...“
    „Ja?“
    „Wir haben den Mann gestern Nachmittag verhaftet.“ Es machte ihm Freude, in das verblüffte Gesicht des Pastors zu sehen. Polizeiarbeit, vor allem auch polizeiliche Routine, wurde oft genug unterschätzt.
    „Er lief einem unserer Beamten in die Arme. Ihre Personenbeschreibung war doch nicht so schlecht. Kai Hahnenkamp alias Jupp Breuer alias Klaus Dyckmann alias Tobias Müller. Vermutlich gibt es noch weitere falsche Namen. Eine wandlungsfähige Person. Ein Heiratsschwindler, um genau zu sein. Er wurde steckbrieflich gesucht. Und deshalb ...“
    „Die Kirche!“
    „Wie bitte?“
    „Jetzt weiß ich, wo ich den Mann schon einmal gesehen habe. Am Sonntag in der Kirche. Er saß neben mir im Gottesdienst, neben einer älteren und ... ähm, wohlhabenden Frau. Warum ist mir das bloß nicht eingefallen?“
    „Er war wieder bei der Arbeit, ja. Wieder eine ältere Dame.“
    „Und ist er der Mörder von Lorenz Schmidt?“
    „Es gibt nicht das geringste Motiv. Abgesehen davon, dass er wahrscheinlich nachweisen kann, um Viertel nach drei nicht am Tatort gewesen zu sein.“

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